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Die neue europäische Rechenzentrumsnorm EN 50600
12. Oktober 2015 -
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Mit der europäischen Rechenzentrumsnorm EN 50600 soll der Bau und Betrieb von Rechenzentren erstmals ganzheitlich geregelt werden. Eine echte Mammutaufgabe, denn jedes Rechenzentrum hat seine individuellen Eigenheiten, weswegen sich ein für alle Datacenter gleichermaßen geltender Leitfaden nur schwer entwickeln lässt. EN 50600 löst dieses Problem, indem sie Anforderungen und Empfehlungen definiert, die alle Vertreter der Branche gleichermaßen betreffen. Wer in der Rechenzentrumsbranche tätig ist, sollte die Norm daher gut kennen.

Entwicklung der neuen europäischen Rechenzentrumsnorm EN 50600

Im Jahr 2011 begann ihre Entwicklung, jetzt ist sie in weiten Teilen bereits verfügbar: Die Rede ist von der neuen europäischen Norm für Rechenzentren, genannt EN 50600. Diese gliedert sich in sieben Teile (s. Abbildung): Der Teil EN 50600-1 behandelt dabei die Grundlagen für alle anderen Normenteile und allgemeine Konzepte wie die Definition von Verfügbarkeitskategorien. Die Teile EN 50600-2-1 bis EN 50600-2-5 betreffen die technischen Bereiche der Gebäudekonstruktion, Stromversorgung, Umgebungsbedingungen (Klima- und Kälteversorgung), Telekommunikationsverkabelung und Systeme für die Sicherheit sowie den Brandschutz. Der Teil EN 50600-3-1 behandelt betriebliche Aspekte und Managementprozesse für Rechenzentren.

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Die Erstellung einer europäischen Norm wird als Projekt des CENELEC durchgeführt, in dem die Mitgliedsstaaten nach festen Regeln beteiligt werden und abstimmungsberechtigt sind. Anders als in anderen Industriegremien können sie daher als Normen „von Europa – für Europa“ betrachtet werden, da alle Länder ihre Expertise und Erfahrung einbringen können, unbeeinflusst von finanzkräftigen Unternehmen.

Die Strukturierung in mehrere Teile ermöglichte es der CENELEC-Projektgruppe – um ihren Convener Jens Dittrich und den Sekretär des TC215 Thomas Wegmann, die beide aus Deutschland stammen – die einzelnen Dokumente nacheinander zu erstellen, zu diskutieren und verabschieden zu lassen.

Trotz ihres komplexen Inhalts „Rechenzentrum“ konnte die gesamte Normenreihe auf diese Weise innerhalb der geplanten Projektlaufzeit des Projektes von 5 Jahren erstellt werden. Während die Teile EN 50600-1 im Jahr 2013 und die Teile EN 50600-2-1 und -2-2 im darauffolgenden Jahr erschienen, wurden die Teile EN 50600-2-3 und -2-4 im März und Juli diesen Jahres veröffentlicht. Die Teile EN 50600-2-5 und -3-1 sind als Normentwürfe verfügbar, die EN 50600-3-1 unter ihrer alten Nummer EN 50600-2-6.  Die Fertigstellung dieser im Entwurf befindlichen Teile wird zwischen Ende 2015 und Anfang 2016 erwartet. Alle Dokumente können über den VDE-Verlag bezogen werden (https://www.vde-verlag.de/normen.html). Die europäischen Normen werden außerdem in die jeweiligen Landessprachen übersetzt, sodass alle Teile der EN 50600 selbstverständlich auch auf Deutsch als DIN EN 50600 verfügbar sind.

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Was bringt die Norm – was bringt sie nicht?

Es gibt Normen, die dafür gedacht sind, dass die Schraube in die Mutter passt. So eine Norm ist die EN 50600 allerdings nicht. Sie beschreibt nicht, wie ein Rechenzentrum aussehen muss – ganz einfach, weil das gar nicht möglich ist. Rechenzentren können sehr unterschiedlich sein: Groß / klein, eigenes Gebäude / in einem anderen Gebäude, sehr hohe Verfügbarkeit / geringere Verfügbarkeit.

Sie können das Kerngeschäft ihres Besitzers sein oder als Unterstützungsprozess für ganz andere Tätigkeiten fungieren. Das Design und die technische Ausstattung von Rechenzentren können dabei sehr unterschiedlich ausfallen und auch die Organisation und Energieeffizienz stark voneinander abweichen. Die Herausforderung bei der Erstellung einer Norm für eine derart variable Dienstleistung ist es daher, für möglichst alle Varianten von Rechenzentren anwendbar zu sein und keine technischen Lösungen auszuschließen. Es sei denn, sie sollten nach Meinung aller Beteiligten tatsächlich nicht im Rechenzentrum verwendet werden.

Die Norm beschreibt daher Anforderungen, die in einem Rechenzentrum umgesetzt sein müssen und Empfehlungen, woran Errichter, Planer und Betreiber denken sollten, um den richtigen Weg für ihr individuelles Rechenzentrum einzuschlagen. Die Norm ersetzt also keine der beteiligten Berufsgruppen, sondern zeigt mithilfe von „Leitplanken“ den Weg zu einem guten Rechenzentrum auf. Die Definition von vier Verfügbarkeitsklassen stellen die wichtigste dieser Leitplanken (s. Abbildung) dar. Sie regeln für die technischen Gewerke der Normenteile EN 50600-2-2 bis -2-4 die grundsätzlichen Eigenschaften der Redundanz von Versorgungspfaden und der technischen Infrastruktur.

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Wer ein Rechenzentrum bauen oder umbauen will oder wer auch nur eine Beurteilung seines aktuellen Standes haben möchte, kann sich nun an der Norm orientieren. Für den Planer stellt sie einen guten Ausgangspunkt zur Festlegung der gewünschten Eigenschaften dar, beispielsweise in der folgenden Form: Basis ist ein Rechenzentrum der Verfügbarkeitsklasse 3, mit redundanten Netzersatzanlagen und Fehlertoleranz bei der Wartung von USV-Anlagen als Erweiterung.

Aber woher weiß der Errichter, welche Verfügbarkeitsklasse er benötigt? Die EN 50600-1 fordert eine Analyse seines Geschäftsrisikos, in der er sich die Kosten eines Ausfalls des Rechenzentrums und die bestehenden Risiken vor Augen führt. Diese werden dann in einer Risikomatrix (s. Abbildung) bewertet.

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Bei den Schutzklassen wird ein „Zwiebelprinzip“ verfolgt, das einen sensibleren Bereich immer innerhalb der nächstniedrigeren Schutzklasse ansiedelt. Es darf also in der Schachtelung der Räume eines Rechenzentrums keine Sprünge innerhalb der Schutzklassen geben, sodass beispielsweise der in Schutzklasse 4 gelegene Serverraum, der die IT Komponenten enthält, nicht an einer Außenwand des Gebäudes liegen darf. Zudem wird der Zutritt zu den Räumen mit hoher Schutzklasse immer weiter eingeschränkt, damit jederzeit sicher nachverfolgt werden kann, wer sich wann im Rechenzentrum aufgehalten hat. Regelungen zum Einbruchschutz und zum Brandschutz ergänzen diese Maßnahmen und werden im (noch nicht in der endgültigen Form vorliegenden) Teil EN 50600-2-5 beschrieben.

Und was ist mit der Energieeffizienz?

Die Energieeffizienz von Rechenzentren ist ein anerkannt wichtiges Thema, auch wenn die Energiepreise in Europa höchst unterschiedlich sind. Unsere niederländischen Nachbarn profitieren z.B. derzeit stark von ihren im Vergleich zu Deutschland niedrigen Energiepreisen, indem sich große Anbieter von Rechenzentrums-Dienstleistungen dort bevorzugt ansiedeln.

Aber auch die nordeuropäischen Länder erfahren die Vorteile ihrer klimatisch günstigeren Bedingungen, da diese ebenfalls die Kosten für den Betrieb von Rechenzentren senken.

Die Norm kann keinem Errichter vorschreiben, wie effizient sein Rechenzentrum zu sein hat. Mit heutigen technischen Anlagen stehen aber auch die Ansprüche einer hohen Verfügbarkeit und einer sehr guten Energieeffizienz in keinem echten Widerspruch mehr zueinander. Der Teil EN 50600-1 definiert deshalb drei Granularitätsniveaus zur „Befähigung zur Energieeffizienz“

  • Einfach: Es werden nur die Basisdaten erfasst, die zur Ermittlung der Energieeffizienz des gesamten Rechenzentrums zwingend erforderlich sind
  • Detailliert: Es werden erweiterte Daten erfasst, die auch eine Beurteilung der Teilsysteme eines Rechenzentrums ermöglichen und eine wichtige Basis für die Wirksamkeit eines Energiemanagementprozesses sind
  • Granular: Es werden sehr viele Daten erfasst, die eine Beurteilung der Energieeffizienz des Rechenzentrums bis ins kleinste Detail ermöglichen

Für die meisten Rechenzentren wird das mittlere Niveau, also das „detaillierte“, ausreichen, um die Energieeffizienz ermitteln und nachhaltig optimieren zu können. Die Definition der Granularitätsniveaus zur Befähigung zur Energieeffizienz können daher als weitere Leitplanke angesehen werden, die ein Rechenzentrum nicht unmittelbar effizienter macht, aber den richtigen Weg dorthin weist.

Wie sieht die Zukunft der EN 50600 aus?

Mit der Veröffentlichung der derzeit noch im Entwurf befindlichen Normenteile ist ein erster Abschluss der EN 50600 erreicht. Gleichzeitig beginnen bereits die Planungen für die ersten Überarbeitungen der vorhandenen Dokumente. So bleibt es z.B. nicht aus, dass es kleinere Inkonsistenzen zwischen den schon länger veröffentlichten und den kürzlich fertiggestellten Teilen gibt. Die Projektgruppe wird sich also nicht ausruhen, sondern weiterarbeiten.

Zudem besteht der Bedarf, die Norm zu erweitern. Ein erstes Anzeichen dafür ist die Umbenennung des ursprünglich als EN 50600-2-6 vorgesehenen Teils in EN 50600-3-1. Unter den Nummern EN 50600-3-x werden weitere Normteile erwartet, die den Betrieb von Rechenzentren betreffen, z.B. Best Practices.

Weiterhin sollen die derzeit ebenfalls in der EN 50600-3-1 dargestellten Key Performance Indicators (KPI) zur Beurteilung der Energieeffizienz und der Prozessqualität des Betriebs von Rechenzentren in den Normenteilen EN 50600-4-x detailliert genormt werden, um der Komplexität einerseits und der Bedeutung von KPIs andererseits besser gerecht werden zu können.

Weiterhin werden die Best Practices des EU Code of Conduct als Technical Report CLC/TR 50600-99-1 in die Normenreihe übernommen. Als TR kann das Dokument dann im jährlichen Rhythmus nach den Prozessen der CENELEC überarbeitet werden. Die Projekte zu diesen Teilen wurden im Laufe dieses Jahres gestartet, die Fertigstellung der ersten Teile wird für 2016 erwartet.

Von Dr. Ludger Ackermann, dc-ce RZ-Beratung GmbH & Co. KG